Dass ein richtig packender Noir-Thriller nicht nur schwarz und weiß sein muss, keine menschlichen Protagonisten braucht und durchaus auch in einer alternativen Steampunk-Realität stattfinden kann, beweist der Brite Bryan Talbot (Sandman) mit seiner Graphic-Novel-Reihe „Grandville“. Die ersten drei Bände, die im Verlag Schreiber & Leser erschienen sind, waren mir Anlass genug für ein ausführliches Special über die bizarre „Erwachsenenfassung“ von Kenneth Grahames Kinderbuchklassiker „Wind in den Weiden“.

In einer alternativen, von menschenähnlichen, intelligenten Tieren dominierten Welt hat Napoleon die Schlacht um Waterloo gewonnen. Das daraus entstandene, französische Imperium hat sich den Rest der Welt einverleibt. Nur mit Großbritannien ist dieses Vorhaben nicht gänzlich gelungen. Nirgendwo sonst formierte sich ein derart entschlossener und effektiver Widerstand. Das führte zum Einen dazu, dass die Briten sich eine verhältnismäßig große Eigenständigkeit bewahren konnten, zum Anderen aber auch dazu, dass sie im Rest des Imperiums gesellschaftlich nicht sehr hoch angesehen oder integriert sind.

Detective Inspector Archibald LeBrock ist ein solch sturrköpfiger Brite und war seinerzeit aktiv im Widerstand. Heute verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Polizist. Gemeinsam mit seinem treuen Assistenten Roderick Ratzi ist der musukulöse, riesige Dachs die effektivste Waffe Britanniens gegen das allgegenwärtige Verbrechen. Allerdings ist LeBrock seinen Vorgesetzten etwas zu effektiv – Leichen pflastern den Weg des Detective Inspector. Bei Verbrechen kennt der Bulle aus Leidenschaft kein Pardon.

Das macht Archibald LeBrock aber sehr einsam. Denn nicht nur er selbst, sondern auch diejenigen, die ihm am nächsten stehen werden wiederholt zu Zielscheiben für erbitterte Racheakte. Trost findet er im Alkohol, in käuflichen Dachsdamen und in den Dingen, die der scharfsinnige Schnüffler am besten kann – Kombinieren, finden und bestrafen.

Gleich vorweg – Alle drei Bände von „Grandville“ sind durch die Bank absolut fantastische Comic-Literatur. Das großartige an der Reihe sind die vielfältigen Intensitätsstufen, mit denen man die Noir-Saga verfolgen kann. Es ist völlig problemlos möglich, sich ganz oberflächlich an den spannenden Kriminalfällen zu erfreuen. Die intelligent strukturierten Stories zeichnen sich durch überraschende Wendungen, augenzwinkernden Humor und überzogene, aberwitzige Gewalt aus. Hauptprotagonist Archibald LeBrock ist als Personalunion des britischen Gentleman-Detectives und muskelstrotzender Action-Helden der Videotheken-Ära der perfekte, traumatisierte Held. Die Kombination aus seiner sehr eigener, aber eisernen Vorstellung von Anstand und erbarmungslosen Vorgehen schafft einen frischen neuen Heldentypus, der einem gleichzeitig seltsam vertraut erscheint.

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Aber weit über toll gemachte Unterhaltung für Erwachsene hinaus ist „Grandville“ Kunst im ganz klassischen Sinne. Der Titel und Name der fiktiven Hauptstadt des französischen Imperiums, ist dem französischen Karikaturisten Jean Ignace Isidore („Grandville“) Gérard gewidmet, der Talbots ursprüngliche Inspiration für das innovative Steampunk-Szenario war. Zahlreiche weitere Städte, Bauwerke und Charaktere sind nach Künstlern oder Kunstformen benannt und an allen Ecken und Enden von „Grandville“ begegnen einem alte Bekannte aus vom Künstler geschätzten Comicreihen oder Romanen. Egal ob „Paddington Bear“ im Hintergrund als volltrunkener Clochard verewigt wird, ein Bordellbesucher sich im Leopardenkostüm von einer Domina durchprügeln lässt und dabei laut „Huba!“ brüllt, oder ob LeBrock bei einer Gefängnisbegehung die furchteinflössenden Alter Egos von „Winnie the Pooh“ oder Dave Sims legendärem Erdferkel „Cerebus“ begegnet – Bryan Talbot lebt seinen bizarren Fetisch für antropomorphisierte Tiere in vollen Zügen aus.

Die drei Bände „Grandville“, „Mon Amour“ und „De Luxe“ hängen inhaltlich zusammen, sollen laut Talbot aber auch jeweils völlig für sich funktionieren. Da bin ich tatsächlich anderer Meinung. Zwar werden die komplexen, politischen Strukturen der alternativen Realität geschickt immer wieder neu erklärt und hergeleitet, aber LeBrocks charakterliche Entwicklung, vor allem im Zusammenhang mit seinen zahlreichen Liebschaften, braucht den Zusammenhang der Bände. Das ist aber überhaupt nicht schlimm. Die großformatigen, sehr wertigen Hardcover mit strukturierter Retro-Haptik wird sich jeder, dem der erste Band gefällt ohnehin bald allesamt ins Regal stellen wollen. Hoffentlich legen Schreiber & Leser möglichst bald mit „Noel“ die deutsche Übersetzung des vierten Bandes nach.

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Was die Bücher bei allem Zusammenhang unterscheidet sind die erfreulich unterschiedlichen Herangehensweisen an die Erzählform. Auch wenn politische Ränkespiele, Propaganda und Manipulation allgegenwärtige Gemeinsamkeiten sind, gibt es beachtliche Unterschiede. „Grandville“ selbst ist ein politischer Thriller, der ganz bewusst mit den zahlreichen Verschwörungstheorien um den Fall der Twin Towers am „Ground Zero“ spielt. Die großartigen Querbezüge zu unserer Realität liefern keine hanebüchenen, verzehrfertigen Theorien über eine der größten Tragödien der jüngeren Weltgeschichte, sondern kratzen ganz zart an der Oberfläche unseres Verständnisses für Nachrichten, deren Wahrheitsgehalt und die Macht der Propaganda. In „Mon Amour“ liegt der Fokus ganz klar auf dem „Noir“-Genre mit Dachsdame Billie als archetyper Femme Fatale, einem gebrochenen Helden und mit Talbots hündischer, diabolischer Version von „Jack the Ripper“. Mit „De Luxe“ feuert der britische Autor dann noch einmal im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Rohren, und erschafft eine bombastische Steampunk-Version von Ian Flemings „James Bond“, die insbesondere die Instrumentalisierung von Kunst durch die Politik thematisiert.

Mir fällt selbst beim Schreiben dieser Zeilen auf, wie abstrus und zusammenhangslos diese Schilderungen jemandem erscheinen müssen, der noch gar nicht mit Bryan Talbots „Grandville“ in Berührung gekommen ist. Das Geniale an der Reihe ist aber die absolut konsequente Glaubwürdigkeit und Homogenität, mit denen der Autor und Künstler all diese grotesken Elemente verbindet. Obwohl ich häufig pausieren musste, um kulturelle Referenzen nachzulesen und zu verstehen bin ich nie wirklich aus dem Lesefluss gekommen, war der englische Steampunk-Noir-Krimi immer spannend und motivierend zu lesen.

Talbots Zeichnungen sind genial vielseitig und glänzen durch minimalistische Linien, die realistische, menschliche Anatomie mit cartoonigen Tierköpfen verschmelzen. Dabei arbeitet er nur sehr wenig mit Schraffuren oder anderen Elementen, die (ohnehin nicht vorhandene) Unsicherheiten maskieren oder stilisieren könnten. Einzig mit der Kolorierung war ich mitunter ziemlich unglücklich. Die butterweichen, digitalen Airbrush-Schattierungen und Highlights erinnerten mich häufig an trashige Splatter-Comics aus dem amerikanischen Verlag „Avatar Press“. Zwar gibt es opulente, dynamische Actionsequenzen, in denen der Stil etwas besser passt, doch im herrlichen, umfangreichen Zusatzmaterial der „Grandville“-Bände gibt es eine Bildfolge, mit der die Zwischenschritte des Färbeprozesses dokumentiert sind. Wenn ich mir dort anschaue, wie klasse Talbots Bilder gleich nach dem ersten Arbeitsschritt (simplen, flächigen Farben) aussehen, dann hätte er es besser dabei belassen. Dann wäre auch die finale Optik von „Grandville“ der inhaltlichen, zeichnerischen und erzählerischen Meisterleistung gerecht geworden.

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  • Band 1 – Grandville
  • Zeichnung & Szenario – Bryan Talbot
  • Preis – € 24,80
  • Format – Hardcover
  • Seiten – 104
  • ISBN – 978-3-941239-87-6
  • Band 2 – Mon Amour
  • Zeichnung & Szenario – Bryan Talbot
  • Preis – € 24,80
  • Format – Hardcover
  • Seiten – 104
  • ISBN – 978-3-943808-03-2
  • Band 3 – De Luxe
  • Zeichnung & Szenario – Bryan Talbot
  • Preis – € 24,80
  • Format – Hardcover
  • Seiten – 104
  • ISBN – 978-3-943808-18-6

Rezensionsmuster – Hardcover, zur Verfügung gestellt von Schreiber & Leser – Herzlichen Dank!

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