1946. Kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs hat zynischer Weise nur der verkommenste Teil der Stadt das Bombardement der Alliierten ohne nennenswerte Schäden überstanden. „Das kleine Paradies“, wie seine Benutzer das Viertel nun nennen, bleibt dennoch vor allem eine Zuflucht für Kriminelle und zwielichtige Gestalten. Viktor zum Beispiel ist zwar kein grundlegend schlechter Mensch, zur Wahrung seines Lebensunterhalts aber trotzdem gezwungen, sich eine dehnbare Auffassung von Recht und Gesetz zu bewahren. Bei dem Versuch einen hochrangigen Nazi und seine Famile für eine beachtliche Menge Zigaretten durch die Reihen der britischen Soldaten zu schleusen, überleben nur Viktor und die kleine Lena. Kurze Zeit darauf fällt die mysteriöse Anna vom Himmel, die abgesehen von einer gehörigen Portion Mistrauen nicht nur über außergewöhnliche Kräfte, sondern auch über ein stattliches Paar schwarzer Flügel verfügt. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für Viktor, um seine Geschäfte weiterhin unbemerkt unter dem Radar der Briten zu führen…

„Annas Paradies“ ist etwas ganz Besonderes. Zwar gibt es viele talentierte Erzähler und Künstler in Deutschland, doch häufig bewegen sich deren Erzeugnisse eng an am Cartoon, der Karikatur, an klassischem europäischem Comic eben. Dass jemand aus diesem schneller und unkomplizierter zu vermarktenden Korsett ausbricht ist selten und passiert häufig eher auf kleinen, halböffentlichen Bühnen, etwa als Webcomic, der für Künstler keine Herstellungskosten bedeutet. Splitter hat gut daran getan, den ersten Comic des eigentlich als Filmemacher und Illustrator tätigen Kölners Daniel Schreiber auf Anhieb und vor allem mit einer dem Inhalt gebührenden Inszenierung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Trotz aller offensichtlichen, optischen Verbindungen zum europäischen Comic wirkt „Annas Paradies“, düsterer, rauher und schmutziger. Daniel Schreibers Verbindung und Liebe zum Film und zu ganz unterschiedlichen Genres und Bildwelten ist allgegenwärtig. Egal ob es um die zwischenmenschlichen Beziehungen der Bewohner des „Kleinen Paradies“ geht, um den großartigen, Hollywood-reifen Showdown mit dem „Hirten“ in Band zwei, oder Schreibers offensichtlicher Inspiration für seine Titelheldin durch Luc Bessons „Das Fünfte Element“, präsentiert sich „Annas Paradies“ mehr als exzellenter „Film zum Lesen“, statt als klassischer Comic.

Das soll nicht bedeuten, dass Daniel Schreiber sein Handwerk nicht versteht, oder das Medium nicht seiner Möglichkeiten entsprechend nutzen würde. Vielmehr wirken Blickwinkel, Farbwahl und Design als ganz bewusste Stilmittel, um im Leser Assoziationen mit hochwertigen, teuren Filmproduktionen zu wecken. Wer besonders großen Wert auf zeichnerisches Handwerk legt muss sich nun aber keine Sorgen machen. Schreibers filigrane, detaillierte Zeichnungen sind eine Augenweide, stilistisch extrem eigenständig und hervorragend koloriert. Wer sich für den genauen Entstehungsprozess der Alben interessiert erhält entweder auf seiner Homepage oder in der limitierten, nicht kolorierten Special-Edition des ersten Bandes Gelegenheit dazu.

„Annas Paradies“ ist eine extrem vielseitige Genremixtur. Neben der ganz offensichtlichen Kreuzung aus düsterer Fantasy und Nachkriegsdrama blitzen immer wieder dezente, humoristische Sequenzen auf, die angenehme Atempausen für die mitunter überraschend deftigen aber sehr stilsicher inszenierte Action-Höhepunkte bieten. Bedauerlich ist eigentlich nur, dass die Arbeit als One-Man-Army Daniel Schreiber offenbar auch einiges an Zeit abverlangt und die Veröffentlichung des zweiten und bislang letzten Bandes bereits mehr als ein Jahr zurückliegt. Letzten Endes besteht bei einem Blick auf die bisherigen Bände von „Annas Paradies“ aber kein Zweifel daran, dass sich das Warten absolut bezahlt machen wird.

  • Autor & Künstler – Daniel Schreiber
  • Bislang 2 Bände + 1 Lim. Special Edition
  • Je 13,80€
  • Je 48 Seiten
  • Hardcover-Alben
  • Erhältlich bei Splitter

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