Der künstliche Junge TIM-21, ursprünglich geschaffen als vollautomatische Familienergänzung, findet sich inmitten eines intergalaktischen Konflikts epischen Ausmaßes wieder. Nach der verheerenden Ankunft mysteriöser, riesiger und tödlicher Maschinen bildet sich zunehmend ein Widerstand unter den immer intelligenteren, fühlenden Robotern der fernen Zukunft von „Descender“. Obwohl sein Nachfolgemodell dem kleinen Tim zum verwechseln ähnlich sieht, könnten die mechanischen Zwillinge verschiedener nicht sein. Während Seriennummer 21 in einer liebenden, fürsorglichen Familie Empathie und ethische Grundwerte verinnerlichen konnte, bestimmten häusliche Gewalt, Ablehnung und Brutalität die Vergangenheit seines ungleichen Bruders. Vor lauter Eifersucht, sein Brude könne ihm den Platz in seiner Familie aus Robo-Separatisten streitig machen, gerät TIM-22 völlig außer Kontrolle…

„Descender“ ist eine atemberaubend wandlungsfähige Comic-Saga, die von Band zu Band ihre erzählerischen Prioritäten verlagert, ohne dabei jemals inkonsistent in ihrer unverwechselbaren Bildsprache zu werden. Bestimmten zuletzt im zweiten Band noch jede Menge Weltraum-Action und launig aufflackernder Humor das Gesamtbild der extrem sozialkritischen Reihe, beleuchtet der gefeierte, kanadische Autor Jeff Lemire in „Singularitäten“ vor allem die Historie jener Charaktere, die ihr Dasein bislang eher am Rande des Geschehens fristeten. Was all diese Rückblicke, abgesehen von Dustin Nguyens hinreißend stimmungsvollen Aquarellen gemeinsam haben, ist ihre schonungslose Kritik an den mitunter abstoßenden Auswüchsen der menschlichen „Zivilisation“. Nach den knapp vier Seiten, in denen man als Leser Zeuge der Vergangenheit des grobschlächtig-gutmütigen Bagger-Bots werden durfte, werden wohl selbst gestählte Prachtexemplare des angeblich stärkeren Geschlechts einen gewaltigen Klos in ihrem Hals bemerken.

So intensiv, intelligent und ambitioniert „Descender“ auch präsentiert sein mag, vernachlässigen die Künstler darüber nie den Unterhaltungswert ihrer Schöpfung. Aber so kunstvoll und nahtlos miteinander verflochten begegnen Comic-Lesern diese beiden Aspekte nur ausgesprochen selten. Das mag auch daran liegen, wieviel Wahrheit diese zunächst so weit von unserer Realität entfernte Geschichte in sich trägt. Zieht man in Betracht, dass Sprachassistenten in handelsüblichen Smartphones dieser Tage über deutlich ausgeprägtere, empathische Fähigkeiten verfügen als so manches Staatsoberhaupt, dann wird schmerzhaft klar, wie nah wir dem Szenario in „Descender“ eigentlich bereits gekommen sind.


DESCENDER (Bd.3): Singularitäten
Autor: Jeff Lemire
Künstler: Dustin Nguyen
120 Seiten
Hardcover
22,80€
ERSCHIENEN BEI SPLITTER