Dank der überfälligen aber dennoch begrüßenswerten Entscheidung des US-Supreme Court sind Homosexualität, die gleichgeschlechtliche Ehe und Toleranz wieder große öffentliche Themen. „Blau ist ein warme Farbe“ ist eine der ganz großen, modernen Erzählungen zum Thema.

Die sechzehnjährige Clementine ist verwirrt. Sie hat ein gutes, ganz normales Leben. Sie trifft sich mit Thomas aus der Oberstufe, ist beliebt in ihrer Clique und das Verhältnis zu ihren Eltern ist auch ganz in Ordnung. So in Ordnung wie es eben sein kann, wenn die Hormone rebellieren. Doch seit sie in der Fußgängezone dieser jungen Frau mit den blau gefärbten Haaren begegnet ist steht Clementines Welt Kopf.

Immer wieder ertappt sie sich  bei romantischen oder erotischen Fantasien, die sich um die mysteriöse Unbekannte drehen. Aber ihr Umfeld, ihre Familie und die sozialen Erwartungen an sie verbieten Clementine sich der Wahrheit zu stellen. Die junge Französin ist lesbisch. Oder zumindest dem eigenen Geschlecht nicht abgeneigt. Und sie muss das Mädchen mit den blauen Haaren wiedersehen. Aber große Schuldgefühle, Angst vor sozialem Versagen und von homophoben Äußerungen ihrer Mutter geschürrte Verwirrung stürzen Clementine in eine tiefe Krise.

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„Blau ist eine warme Farbe“ ist eine der erfolgreichsten, modernen Graphic Novels. Dieser Erfolg ist sicher auch der sehr erfolgreichen, aber nur grob an der Vorlage orientierten Verfilmung zu verdanken. Aber auch ohne diese multimediale Schützenhilfe war die tragische Liebesgeschichte bereits ein großer, internationaler Erfolg.

Fernab von Superhelden, Dinosauriern und riesigen Robotern ist die 156 Seiten starke Graphic Novel, ein sehr ernster und emotional sehr beeindruckender Beitrag über wahre Liebe, Ausgrenzung und eine Welt, die bei aller vermeintlichen „Akzeptanz“ (als hätte sich diese erst verdient werden müssen) junge Menschen noch immer vor dieser „Entscheidung“ bewahren möchte. 

In ganz dezenten, blassen Farben und einem sehr eigenständigen Zeichenstil irgendwo zwischen europäisch und Manga zeigt Autorin und Zeichnerin Julie Maroh diese Welt durch die Augen eines verzweifelten, pubertierenden Mädchens. Dabei beweist sie großes Geschick darin, viel Ausdruck in die Mimik ihrer Figuren zu legen. Während ich beim ersten Durchblättern den Stil persönlich noch wenig ansprechend fand, kann ich jetzt klar sagen, dass der Band auch große visuelle Momente hat. Die erste Begegnung zwischen Emma und Clementine ist absolut großartig und intensiv, ganz ohne Worte.

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All das passiert fern ausgelatschter Klischees, wie man sie aus US-Sitcoms oder RTLs grauenerregendem „Frauenknast“ kennt. Es geht um wahre Liebe in ihrer dramatischsten Ausprägung. Um emotionale Abhängigkeit. Und viel geht es eben auch darum, welche extreme psychische und soziale Belastung ein Coming Out für einen jungen Menschen auch heute noch bedeuten kann.

„Blau ist eine warme Farbe“ wird sicher nicht jeden meiner Leser ansprechen. Auch ich bin nur über viele Umwege und Empfehlungen aus unerwarteten Richtungen auf das unscheinbare Kunstwerk aufmerksam geworden. Ich habe eine schlimme Liebesfilm- und Arthouse-Allergie. Es braucht ganz besonderes Fingerspitzengefühl um mich dafür zu interessieren, mir eine tragische, französische, aquarellkolorierte Liebesgeschichte aus Sicht einer sechzehnjährigen auf 156 Seiten durchzulesen. Und trotz allem durch Dritte gewecktem Interesse habe ich das schlicht-elegante Hardcover mit großer Skepsis gelesen.

Meine Skepsis,war nicht begründet. Julie Maroh hat es erstaunlich unkitschig und ohne viel wollüstige Fleischbeschau geschafft, dass ich als zynischer, dicker, bärtiger Mann das Buch mit einem dicken Kloß im Hals zuklappen musste und aufrichtig ergriffen war. Was könnte es für ein besseres Qualitätssiegel für große Kunst geben?

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  • Autorin und Zeichnerin –  Julie Maroh
  • Übersetzerin –  Tanja Krämling
  • Einband – Hardcover
  • Seiten 156
  • ISBN 978-3-86869-695-0
  • erschienen am 01.12.2013

Rezensionsmuster – Hardcover, zur Verfügung gestellt von Splitter – Herzlichen Dank!

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