Ich habe offen gesagt nie so ganz verstanden, was dieses ganze Szenengewirr aus unpolitischen und rechten Skinheads, Rockabillies, Psychobillies und den vielen, vielen anderen Unterkategorien britischstämmiger Jugendkultur so auf sich hat. Gut, dass Tobi Dahmen (wie oft der Gute im Moment wohl den schwachen Kalauer mit dem Dahmenrad über sich ergehen lassen muss?) mit seiner authentischen, autobiographischen Graphic-Novel „Fahrradmod“ Licht ins Dunkel bringt.
Tobias ist ein ganz normaler Jugendlicher, der in Wesel am Niederrhein aufwächst. Zwei Dinge stellen sich für den verträumten und schüchternen Jungen schnell heraus. Zum Einen möchte er sich abheben, möchte er anders sein. Zum Anderen verliebt er sich schon in jungen Jahren unsterblich in die Musik. Dabei kann er mit dem modernen Quatsch, den seine Mitschüler in den Achtzigern und Neunzigern so hören nicht viel anfangen. Insbesondere die Sechziger haben es Tobi angetan. Soul, R’n’B und Ska. Nachdem er im Sowi-Unterricht den auf einem Album der Band „The Who“ basierenden Film „Quadrophenia“ sieht, ist es um Tobias geschehen. Ab sofort weiß er, wo er hingehört und will ein Mod werden…
480 Seiten. Wenn jemand neben der Vollzeit-Arbeit so viele Comics liest und rezensiert, wie ich es tue, dann sind 480 Seiten wirklich eine harte Ansage. Aber ich habe „Fahrradmod“ beinahe am Stück gelesen, nur unterbrochen von ein paar Stunden Schlaf. Das lag sicher nicht daran, dass es meinen von Horror, Superhelden, Fantasy und Science-Fiction geprägten Lesegewohntheiten entsprochen hätte. Auch visuell beeindrucken mich sonst eher sehr aufwändige, detaillierte Bildwelten. Die Faszination von „Fahrradmod“ liegt in der beeindruckenden Ehrlichkeit, mit der Tobias Dahmen seine sehr persönliche Geschichte erzählt. Obwohl ich selbst nicht das geringste mit Soul oder R’n’B anfangen kann, nie das leiseste Interesse an Motorfahrzeugen hatte und ich mir auch nie viel aus schicker, eleganter Garderobe gemacht habe kann ich das Lebensgefühl der Modszene nun komplett verstehen und nachvollziehen. Das ist vor allem deshalb beeindruckend, weil ich bis ich das Buch das erste Mal aufschlug nicht den leisesten Schimmer hatte, was ein Mod überhaupt ist.
Natürlich finde aber auch ich persönliche Identifikationspunkte, die mich in Tobis Geschichte verankern. Die Erfahrungen mit unterschiedlichen Strömungen in Jugendkultur, politischen Einflüssen und der bizarren Versagensangst dabei, sich dem Szenenkodex entsprechend zu verhalten kenne ich zu Genüge. Aber was mich an „Fahrradmod“ gefesselt hat waren die Einblicke in eben die Dinge, die ich vorher nicht kannte. Die Entwicklung der eigentlichen Mod-Szene, und dem was die Weseler Jungs für sich daraus gemacht haben zu beobachten.
Zeichnerisch erkennt man dabei schnell die Liebe des Künstlers zum klassischen, europäischen Comic, die sich auch in seiner Arbeit als Illustrator niederschlägt. Anders als Dahmens häufig in der Werbung verwendeten, modernen und bunten Artworks hat er sich bei „Fahrradmod“ für eine nostalgische Schwarzweiß-Optik entschieden, die dem mächtigen Hardcover-Wälzer hervorragend steht. Überhaupt verleiht die lebendige, freche Comicoptik der überwiegend eher ernsten Handlung eine angenehme Leichtigkeit und punktet immer wieder durch coole, metaphorische Sequenzen und prominent platzierte und handgeletterte Songtexte. Einzig die große Ähnlichkeit zwischen Tobi und Wombel fand ich beim Lesen doch manchmal etwas irritierend.
„Fahrradmod“ ist eine tiefe, echte und informative Szenenstudie, die nie vergisst ihren Leser zu unterhalten und deshalb trotz der immensen Informationsfülle wie im Fluge vergeht. Jeder, der in seiner Jugend einmal einer Szene angehört hat wird sich nicht nur wiederfinden, sondern vielleicht sogar wie ich einige Antworten auf diese eigenartigen Typen finden, die man nie wirklich zuordnen konnte. Für mich war dabei die detaillierte Aufarbeitung der Skinheadkultur und der Vorurteile, mit der die „Ur“-Skins sich durch den Aufstieg ihrer „Krawallbrüder“ konfrontiert sahen ganz besonders interessant.
- Autor und Zeichner – Tobi Dahmen
- Preis – 29,99 €
- Größe – 17,50 x 24,50 cm
- Seiten – 480
- Altersempfehlung des Verlages – ab 14 Jahren
- ISBN – 978-3-551-76308-2