Christy erwacht schwer verletzt in einem Schutzbunker, mitten im ewigen Eis. Ein schweigsamer Einsiedler hatte die junge Frau, die wie durch ein Wunder offenbar einen Kopfschuss überlebte nur knapp vor dem Erfrieren retten können. Obwohl Christies Erinnerung von dichtem Nebel umgeben scheint, ist sie beseelt von brennendem Verlangen nach Vergeltung. Wer immer ihr dieses schreckliche Leid zugefügt hat, durch dass sie sogar ein Auge verlor, soll dafür bezahlen. Wie überaus hilfreich, dass sich ihr Retter als kampferprobter Geheimagent im Ruhestand erweist. Der ehemals unter dem Decknamen „Black Kaiser“ bekannte Kampfkünstler respektiert die Rachegelüste seines unverhofften Gastes. Also beschließt er, Christy mit allen Mitteln und Fähigkeiten auszustatten, die sie für einen blutigen Rachefeldzug benötigen wird…

Nach „Der aus der Kälte kam“, dem ersten Band zum Webcomic-Erfolg aus der Feder von Victor Santos (Mice Templar, Dead Boy Detectives),schlägt „Auge um Auge“ nun das nächste Kapitel im stylischen Racheepos auf. Geblieben sind starke Farbkontraste auf schwarzweißen Comicseiten, die in rotem Blut versinken. Doch durch den Wechsel der Hauptfigur auf eine zu Beginn wehrlose junge Frau tritt „Polar“ einen großen Schritt aus dem Schatten seiner ganz offensichtlichen Inspiration „Sin City“ hervor, was der Reihe richtig gut tut. Auch wenn Santos erneut nicht vor Anleihen, diesmal vor allem beim Exploitation-Tribut „Kill Bill“ von Quentin Tarantion zurückschreckt, fühlt sich „Auge um Auge“ frisch und herrlich an. Zahlreiche, extrem stilsichere Martial-Arts-Sequenzen geben diesmal den Ton an und schlagen so den Bogen über Marvels Attentäterin Elektra doch wieder zurück zu „Sin City“-Schöpfer Frank Miller.

Aber Victor Santos kopiert nicht einfach stumpf. Die oft stark stilisierten und kantigen Zeichnungen des Spaniers wechseln oft ganz bewusst ihren Detailgrad und Stil, um bizarre Erinnerungsfetzen zu beschreiben. Diese Flashbacks, diese verschwimmenden Bilder sind das künstlerisch beeindruckende Alleinstellungsmerkmal einer Reihe, bei der es gleichermaßen leicht fiele und ihr Unrecht täte, sie als „Sin City“-Abklatsch zu verstehen. Tatsächlich ist „Polar“ in seiner Gewaltdarstellung oft noch expliziter, als Millers Noir-Legende, dabei aber immer wahnsinnig ästhetisch und kunstvoll. Auch wenn Gewalt und Sex ihren festen Platz in der surrealen Welt der einäugigen Actionhelden haben, bedient sich Santos kaum der Tarantino-üblichen Obszönitäten. Stattdessen entwirrt er stetig sein Netz aus Geheimnissen und Verschwörungen, um eine würdige Hochglanz-Alternative zur harten Action seiner künstlerischen Vorlagen zu liefern.

Copyright © 2016 by Victor Santos
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