Mutter Tugend ist ein Quell der Hoffnung und Freude für alle Menschen in ihrer Nähe. Die alte Dame ist selbstlos und gütig, bietet stets ein offenes Ohr und eine helfende Hand für jeden. Doch eines Nachts, in einem kurzen Moment der Schwäche, fasst Tugend einen Wunsch. Nichts will sie lieber als ein eigenes Kind. Jemanden, der auch sie lieben soll. Ein abstoßender Dämon namens Spott zögert nicht lange, missbraucht das Sehnen von Mutter Tugend für seine eigenen Zwecke und pflanzt seinen gifitigen Spross in ihren Leib. Neun Monate später gebärt Tugend Schande – ein kleines Mädchen, benannt nach dem Schatten seiner Entstehung. Obwohl es ihr das Herz bricht, erschafft die magisch begabte Mutter ein sicheres Gefängnis für ihre gefährliche Tochter. Einen Garten, dicht umwachsen von undurchdringlichen Dornenhecken. Nie soll Schande hinaus in die Welt ziehen oder das Gute vergiften dürfen…

Die bizarren Bildwelten des britischen Comic-Künstlers John Bolton erwecken nicht nur kunstvolle, fantastische Geschichten wie „Marada – Die Wölfin“ oder „Black Dragon“ zum Leben, sondern inszenierten auch bereits publikumswirksame Comic-Themen wie „Batman“. Die pompösen und ausdrucksstarken Malereien des 64-jährigen geizen zwar selten mit hingabevoller, nur mäßig verhüllter Betrachtung der weiblichen Anatomie, sind dabei aber so atmosphärisch und technisch eindrucksvoll, dass die nackte Haut zwar sicher ein guter Grund ist hinzuschauen, aber nie zentraler Inhalt bleibt.

In den bei Splitter als einzelne Graphic Novel erschienen drei Bänden von „Shame“ bedient sich Bolton außerdem eines bewussten, genialen und immer wiederkehrenden Stilbruchs. Während seine Hauptfiguren in wunderschöner, fotorealistischer Perfektion erstrahlen, sind die dämonischen Bewohner der Welt von Shame grotesk verzerrte und überzeichnete Kreaturen. Statt sanfter Farbübergänge herrschen dicke, tiefschwarze Marker-Linien vor. Ein großartiger Kontrast, der den Anblick von „Shame“ so einzigartig macht wie die Handlung.

Das von Lovern Kindzierski (hauptsächlich Kolorist für Marvel) erdachte, tiefsinnige Sage versucht eindrucksvoll die Werte von Tugend und Liebe eine feindselige, furchteinflößende Welt überleben zu lassen. Die grausamen, exzessiven Handlungen der erwachsenen „Schande“ und ihres bestialischen Erzeugers entfalten ihre Wirkung eher in Worten als in Bildern. Das gestattet dem poetischen Fantasy-Epos seine surreale, mystische Stimmung beizubehalten. „Shame“ ist ein intensives, berauschendes und ästhetisches Märchen für Erwachsene.

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