Auf einer dicht bewachsenen Waldlichtung findet ein junges Mädchen auf einem ihrer verträumten Streifzüge durch die Natur einen alten, offenbar in Vergessenheit geratenen Brunnen. Von dessen Grund winkt ihr tatsächlich ein freundlich lächelnder Junge empor. Er berichtet seiner kleinen Besucherin von den tragischen Ereignissen, die dafür verantwortlich sind, dass er nun in diesem finsteren Loch sitzt. Eine Geschichte, die das Mädchen nicht mehr loslassen soll…

Es ist ausgesprochen schwierig, den sachlich im Grunde extrem kompakten Inhalt von „Der Junge lebt im Brunnen“, das auf einem alten Song von Autor Alexander Kaschtes Band „Samsas Traum“ basiert zusammenzufassen. Die Comic-Erzählung des exzentrischen und kultisch verehrten Künstler entfaltet sich vor allem durch die atemberaubenden Bilder des polnischen Künstlers Jaroslaw Gach. Natürliche, geschwungene Tuschlinien, die eher an europäische, als an oft deutlich plakativere US-Comics erinnern zeigen hier aber keine lustigen Knollnasen-Kobolde. Sie reduzieren und stilisieren auf beeindruckende Art und Weise ursprünglich fotorealistisch angelegte Bildkompositionen. Zusätzliche emotionale Durchschlagskraft erhält das herrlich unkitschige und tatsächlich furchtbar traurige Märchen durch seine leuchtenden Aquarellfarben, die keine Zweifel daran lassen, dass traditionelles, analoges Handwerk dem Duo ausgesprochen wichtig für das naturverbundene, dichte Szenario war.

Technischer Schnickschnack spielt auch inhaltlich keine Rolle in der beeindruckenden kleinen Erzählung, was für einen stilvoll-zeitlosen Eindruck sorgt. Wer sich gern in Bildern verliert, wer Freude an nicht mundgerecht aufgeschlüsselten, mehrbödigen Metaphern hat und ein Buch auch gern einfach mal mit dem Bauch liest, anstatt es zu zer-analysieren, der wird große Freude an diesem extrem ambitioniertem und gefühlvollem Indie-Comicband haben.

Die für die Rezension vorliegende, limitierte Erstauflage von „Der Junge lebt im Brunnen“ ist übrigens mit seinem schweren, strukturierten Papier, der rückenlosen Bindung zwischen dicken Strukturkartons und selbst seinem natürlichen Geruch ein multisensorisches Erlebnis der Extraklasse und vermittelt die täuschend echte Illusion, ein originales Manuskript in den Händen zu halten. Ein Artefakt, das direkt aus der atmosphärischen Welt stammen könnte, von der es erzählt.


DER JUNGE LEBT IM BRUNNEN
Autoren: Alexander Kaschte, Jaroslaw Gach
48 Seiten
Hardcover
19,95 Euro
ERSCHIENEN IM „INSEKTENHAUS“