In einer unangenehm prophetisch geschilderte Zukunftswelt, in der die Menschheit durch ein heimtückisches Virus dezimiert wurde, werden Kinder nur noch als sogenannte „Hybriden“, als Mischungen aus Mensch und Tier geboren. So wie der junge Gus, dessen Kopf ein prächtiges Geweih ziert. Nach dem Ableben seines Vaters, der ihn in der Isolation des tiefen Waldes aufzog muss sich das Kind nun in einer verstörend feindseligen Welt zurecht finden, in der nur der brutale und zwielichtige Jepperd ein wenig Schutz zu bieten scheint…

Anders als in seinem reichlich vorhandenen modernen Output kümmerte sich der kanadische Erfolgsautor Jeff Lemire bei „Sweet Tooth“ noch selbst um die Zeichnungen. Die unnachahmlich markant-zittrige Tuscheoptik, stimmungsvoll eingefärbt von José Villarrubia passt dabei wie die Faust auf das infizierte Auge der so derben wie gefühlvollen Roadmovie-Story, die sich in diesem zweiten Band langsam in mystische Gefilde wagt, ohne bei der Metamorphose vom scharfen Profil einzubüßen.

Während der Plot, wenigstens nach heutigen Maßstäben bislang nicht über gute, doch recht gut vorhersehbare Standards hinausgeht, ist „Sweet Tooth“ in dieser atmosphärisch einwandfreien Verpackung aber nicht weniger als das Destillat von Lemires exzellentem Gespür für die Entwicklung wahnsinnig authentischer Charaktere und ihrer Beziehungen untereinander. Die Emotionale Komplexität zwischen dem jungen Gus und dem unberechenbaren Jepperd, der scheinbar nichts mehr zu verlieren hat ist meisterlich präsentiert. Wobei der starke Text und die kruden, sicher nicht jedem Geschmack entsprechenden Bilder eine starke Symbiose miteinander eingehen, um dieses hohe Ziel zu erreichen.

Es verwundert nicht, dass „Sweet Tooth“ für viele Leser der vielleicht stärkste Output von Jeff Lemire ist, da zumindest die bislang in hübscher „Deluxe Version“ vorliegenden ersten zwei Drittel in all seinen Stärken brillieren. Lediglich den bis heute immer wieder auftauchenden Vorwurf, er nutze die Eigenheiten des Mediums, wie etwa die Panelaufteilung meist nicht sonderlich kreativ, sondern auf eine sehr filmische Art, die einem Storyboard gleichkommt, muss er sich auch hier gefallen lassen. Diese Facette der neunten Kunst gelingt ihm mit seinem Künstler-Kollegen Andrea Sorrentino (Gideon Falls, Old Man Logan, Joker – Killer Smile) deutlich eindrucksvoller.


SWEET TOOTH – Deluxe Edition (Bd.2), Autor: Jeff Lemire. Künstler: Emi Lenox, Jeff Lemire, Matt Kindt, Nate Powell. 316 Seiten, Hardcover, 35,00 Euro, Erschienen bei PANINI