Winston Smith arbeitet im Ministerium für Wahrheit und führt ein recht monotones Leben. Er steht auf, macht Morgengymnastik nach den Anweisungen des Fernsehers, arbeitet vergangene Nachrichten nach den Vorgaben der Parteilinie um und trinkt danach mit einigen anderen einen Gin in einer Bar. Dabei befindet sich sein Land Oceania im Krieg, was seine Umgebung trist und grau macht. Die Gegner sind Eurasien oder Ostasien, je nachdem. Smith arbeitet im Ministerium für Wahrheit. Er beginnt Tagebuch zu schreiben und sich in eine junge Frau namens Julia zu verlieben. Beide Handlungen stellen Straftaten dar, denn das Formulieren eigener Gedanken führt zu einem Gedankenverbrechen und Liebesbeziehungen, die frei gewählt sind, führen zu revolutionärem Aufbegehren. Winston versucht seine Gedanken zu notieren und seine Privatsphäre so zu sichern. Doch die Partei Ingsoc bestimmt und überwacht die Realität. Mehr noch: sie schreibt die Geschichte nach ihrem Belieben um. Winston weiß das, da genau das sein Job ist. Die Vergangenheit wird immer wieder neu an die Parteilinie angepasst, genau deshalb wissen die Personen im London Oceanias nicht mehr, wie ihre Vergangenheit aussieht. Durch die Kunstsprache „Neusprech“ wird die geschaffene Realität auch sprachlich abgesichert, um keine eigenen Gedanken aufkommen zu lassen. Deshalb darf nur „Neusprech“ gesprochen werden, eine von der Partei kreierte Sprache, die Wörter eliminiert und freie Ausdrucksmöglichkeiten Schritt für Schritt einschränkt. Sprachkreationen lassen beispielsweise „Doppeldenk“ zu, eine Möglichkeit Widersprüche wie „Freiheit ist Sklaverei“ und „Krieg ist Frieden“ zu denken. Die allgegenwärtigen Telescreens dienen als Überwachungsgeräte der Partei, die jegliche Information jeder Person direkt übermitteln. Die riesige Architektur und die allgegenwärtige Propaganda werden sowohl in einzelnen Panels als auch in großformatigen, wie Poster der Parteianhänger wirkenden Bildern dargestellt.

Dieses Leben spielt in der Graphic Novel-Adaption des dystopischen Klassikers 1984 aus der Feder von George Orwell. Diese hier stammt von Autorin Sybille Titeux de la Croix und Zeichner Amazing Ameziane und dürfte jeden Dystopie oder Orwellfan begeistern. Das französische Duo hat zuvor der amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis und der Boxlegende Muhammad Ali jeweils eine Graphic Novel gewidmet (“Miss Davis” und “Muhammad Ali”). Die mit 232 Seiten sehr umfangreiche Graphic Novel erzählt die Geschichte von Winston Smith mit großformatigen Zeichnungen, die die Umwelt des Protagonisten in einem totalitären System beeindruckend, drückend und trist darstellen. Der Romanvorlage folgend ist die Adaption in drei Teile geteilt. Im ersten Teil lernen wir die triste Realität und den Alltag in einem Überwachungsstaat kennen. Die großen Bauten der Staatsmacht umgeben die Realität des Protagonisten, dem wir im zweiten Teil in einen inneren Konflikt folgen, Widerstand gegen das System zu entwickeln. Im dritten Teil folgen dann die harten Folterkonsequenzen des Überwachungsstaates.

Die Zeichnungen lassen zu jederzeit die Unsicherheit und Traurigkeit der Protagonisten erkennen. Doch Winston Smith lässt sich nicht davon abbringen das Undenkbare zu denken und seinem Herzen zu folgen. Die Konsequenzen für seine Handlungen wird ihn Big Brother jedoch spüren lassen. Die Bilder sind in einem blassen Blau gehalten und vermittelt so die traurige Realität im totalitären Staat, in denen er blass und abgemagert in den Mühlen des Systems zu zerbrechen droht. Da das reale Jahr 1984 nun 36 Jahre vergangen ist und die Romanvorlage 72 Jahre nach ihrer Veröffentlichung eine Comicadaption erhält, ist keine schlichte Klassikerpflege, sondern aktueller denn je. Die Themen, die in der Adaption nun endlich eine würdige graphische Darstellung erhalten, rütteln durch ihre Darstellung auf. Ständige Überwachung durch die Telescreens und Einmischung der Politik in persönliche Beziehungen sind Themen, die uns heute in anderer Weise beschäftigen, als zur Zeit direkt nach dem zweiten Weltkrieg, als die Vorlage veröffentlicht wurde. Pressefreiheit, Debatten um Sprachregelungen rund um „Cancel Culture“, Whistleblowing à la Snowden und Assange oder die Datenverarbeitung unserer Smartphones durch wenige große Unternehmen zeigen die Zeitlosigkeit der Themen in 1984. Diese Überwachung in 1984 stellen eine Symptomatik dar, die in immer neuem Gewand erscheinen. Ersetzen wir heutzutage Telescreens mit Smartphones und staatliche Überwachung mit der Datensammlung großer Konzerne, dann bleiben jene Aspekte aus 1984 für uns klar relevant.

Der Zeichner macht in einem kleinen Nachwort ebenfalls darauf Aufmerksam, dass Neusprech in einigen Staaten, die sich als demokratisch verstehen, auch in Friedenszeiten zur offiziellen Sprache geworden zu sein scheint und man deshalb 1984 in all seinen Aspekten lesen müsse. Dem ist nur beizupflichten und zu ergänzen, dass diese Adaption aus dem Splitter-Verlag nicht nur eine visuelle Würdigung des Klassikers darstellt, sondern für Neuinteressierte oder für alteingesessene Dystopiefans ein eigenständiges, spannend erzähltes Werk von politischer Brisanz ist.


Leseprobe


1984, Autoren: George Orwell & Sybille Titeux de la Croix, Künstler: Amazing Ameziane, 232 Seiten, Hardcover, 19,80 Euro, Erschienen im SPLITTER VERLAG