Mit unserer Kindheit verbinden wir oft Gesichter, Orte und bestimmte Erinnerungen mit der Familie. Diese sind auch oft mit Gerüchen verbunden. So ist es auch in der Biographie von Bianca Schaalburg, die ihre Kindheit mit dem Duft der Kiefern auf den Straßen von Berlin verbindet. Bianca erbt nach dem Tod ihrer Großmutter einige Möbel. Die Geschichte eines Schranks, den die Großeltern beim Einzug in ihre Wohnung neu erhielten, drei Stolpersteine vor dem Haus der Großeltern, wo genau im Jahr 1933 ihre Großeltern einzogen, Hakenkreuze und Abzeichen der NSDAP auf der Kleidung des Großvaters, die sie auf Familienfotos aus dem Jahr 1926 sieht, machen Bianca neugierig.

In der Graphic Novel „Der Duft der Kiefern“ begibt sich die Autorin und Zeichnerin Bianca Schaalburg auf die Suche nach den Spuren der Nazi-Vergangenheit ihrer eigenen Familie. Auf die Frage der Autorin in ihren Kindheitstagen, ob denn auch Juden in der Nachbarschaft lebten und ob sie welche gekannt habe, sagte die Großmutter sie hätte von all dem nichts gewusst. Doch vor dem Haus ihrer Großeltern entdeckt die Autorin Jahre später drei Stolpersteine, welche kleine Messingtafeln erdacht vom Künstler Gunter Demnig wurden und kleine Gedenktafeln von Ermordeten des NS-Regimes darstellen. Es haben also doch Juden hier gelebt und das vielleicht sogar in dem Haus ihrer Großeltern? Sie fragt weiter: Was hat ihr Opa in Riga für die Wehrmacht gemacht? Hat er wirklich nur als Buchhalter gearbeitet? Was haben die Großeltern von den Gräueltaten gewusst? Wie war eine Kindheit unter Nazis?

Die verschiedenen zeitlichen Episoden sind farblich getrennt und können dadurch sinnvoll auseinandergehalten werden. Schaalburgs Zeichnungen sind großflächig koloriert und je nach Passage gespickt mit realen Archivauszügen, Familienbildern oder, im Falle fiktiver Erzählungen, fantastischen traumartigen Puzzleteilen und Figuren, die längere Textpanels umschließen. Zudem zeichnet sich in den einzelnen Epochen jede Figur, sei sie aus ihrer Familie oder dem politischen Kontext, in einer wirklichkeitsnahen Weise, die ihre Gefühlslage, Mimik und Umgebung erkennen lässt. Die Autorin wechselt vor und zurück und ermöglicht so eine Erzählung der Familiengeschichte aus drei Generationen: Der Geschichte ihrer Großeltern, ihrer Eltern und ihrer Kindheit. Diese zeitlichen Ebenen sind zugleich eine Schau durch die Bundesdeutsche Geschichte. Die Diskussionen um Mitschuld, das Wissen der Kinder der NS-Zeit und dem fehlenden Aufklären der zweiten Generation der Nachkriegszeit bilden die Grundsteine Schaalburgs Erzählung. Die vollständige Aufklärung gelingt der Autorin trotz ihrer dreijahrelangen Recherche in Archiven, vor Ort und in der Aufarbeitung der Familiengeschichte nicht vollständig. Sowohl die Biographie und die Verstrickung des Großvaters während der NS-Zeit als auch die Lebensläufe der Opfer bleiben bruchstückhaft. Schaalburg versucht diese Lücke durch eine eigene Erzählung zu füllen. Sie möchte den drei Opfern, die zuvor im Haus ihrer Großeltern lebten, so eine Stimme geben und erzählt ihre Geschichten wie sie gewesen sein könnten.

Nach der 178 Seiten Geschichte finden wir einen vielfältigen Anhang. Dieser besteht aus einem Familienstammbaum, den relevanten historischen Orten und Personen, die im historischen Kontext erläutert werden. Die Graphic Novel zeigt uns eine wichtige Problematik, nämlich die des Erinnerns ohne Zeitzeugen. Wie sollen wir in der dritten oder vierten Generation eine Gedenkkultur gegen das Vergessen gestalten? Das Weitergeben der Geschichten lebt von diesen Erzählungen und auch das ehrliche fiktive Füllen solcher Lücken kann dabei eine entscheidende Rolle spielen, solange die Autor*innen deutlich machen, dass dies ihre subjektive Version darstellt und das tut die Autorin einfühlsam. Schaalburg zitiert mahnend den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der in seiner Rede zum Kriegsende vor 75 Jahren am 08. Mai 2020 darauf hinwies, dass es kein Ende des Erinnerns und keine Erlösung von der Geschichte gibt, da wir ohne die Erinnerung unsere Zukunft verlieren. Die Gestaltung der Zukunft wird von diesem Erzählen und Erinnern abhängen. Diese Graphic Novel leistet in ihrer einfühlsamen, offen und ehrlichen Familienerzählung einen wichtigen Beitrag dazu.


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DER DUFT DER KIEFERN, Autorin & Künstlerin: Bianca Schaalburg, 208 Seiten, Hardcover, 26,00 Euro, Erschienen im AVANT VERLAG